Zwischen den Stühlen

Sie kommt aus Kanada, hat jahrelang in England gelebt und wohnt nun in einer kleinen Stadt in Bayern. Doch auch sonst hat sich viel in Maries Leben verändert – nicht zuletzt wegen ihrer bipolaren Störung

Marie ist 27 und hat seit knapp vier Jahren eine bipolare Störung. Manchmal geht es ihr super und sie kann sich vor Freude kaum halten, ist nahezu euphorisch. Im nächsten Moment fällt ihr jede Aufgabe schwer und sie kann sich auf nichts konzentrieren. Mehrere Ausbildungen musste sie deswegen abbrechen. Viele Male verbrachte sie Wochen bis Monate in der Psychiatrie. Auch ihre Ehe ging in die Brüche. Marie zog aus, die Wohnung zahlt das Sozialamt, genau wie ihren Lebensunterhalt. Sie will lieber auf eigenen Beinen stehen. Doch nach mehreren gescheiterten Anläufen auf dem Arbeitsmarkt ist klar: So wird das nichts. Sie startet eine Reha, weit weg von ihrem bayrischen Wohnort.

Hier wohnt sie seit sechs Jahren. Eigentlich kommt sie aus Kanada und hat später einige Jahre in England gelebt bis sie nach Deutschland zog. Ihre Familie ist breit verstreut, Marie sieht sie nur selten.

Die Reha verläuft nicht wie geplant. Marie ist genervt von den Leuten dort, vermisst die Freunde zuhause. Sie bricht ab. Eins hat sie daraus mitgenommen: Daniel, 23. Er wohnt seitdem bei ihr. Nach der Trennung von ihrem Exmann stürzte sich Marie häufig und schnell in neue Beziehungen. Diesmal, so sagt sie, sei das anders. Daniel ist eine Stütze für sie, füllt die vorher leere Wohnung aus. Er ist fürsorglich, hilft im Haushalt.

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Die ausgepackten Tabletten sind Maries Tagesdosis. Sie sind dafür da, ihre Stimmung konstant zu halten. Sie soll weder nach unten noch nach oben abdriften.

Marie, ihm schmeckt’s nicht!

Heute kocht Daniel Spaghetti Bolognese. “Viel zu scharf! Wenn ich ein bisschen nehme ists okay, aber wenn ich viel nehme: viel zu scharf!”, meldet sich der größte Kritiker seiner Küche zu Wort. Er heißt Silas. Silas ist drei Jahre alt und Maries Sohn. Er spielt gerne mit Figuren und Autos. Manchmal malt er auch. Außerdem würde er am liebsten den ganzen Tag seine Lieblingsserie “Paw Patrol” auf Netflix gucken, doch Mama hält ihn davon ab. Außer er gibt ihr einen “Riesenhuggie”, dann lässt sie sich manchmal überreden.

Jedes zweite Wochenende ist er bei ihr, die restliche Zeit lebt er bei seinem Vater, Maries Exmann. Die Scheidung ist bald durch und Marie freut sich. Zwar wird sie einen anderen Namen tragen, als ihr Sohn, aber das ist nicht wichtig. Sie ist froh, wie alles gelaufen ist. Direkt nach Silas’ Geburt verfiel Marie in eine tiefe Depression. Darauf folgten manische Phasen, in denen sie wie ausgewechselt war. Sie war aufgedreht, hyperaktiv, konnte sich nicht um ihren Sohn kümmern. Sie ging in eine psychiatrische Klinik und bekam Tabletten. Ihr damaliger Mann kam mit der Situation nicht klar.

Alles auf Anfang

Die neue Beziehung gibt ihr Halt. Daniel unterstützt sie im Alltag. Sie streiten viel, auch wegen Maries Stimmungsschwankungen, die selbst die vielen Medikamente nicht immer ausgleichen können. Doch sie vertragen sich immer wieder. Egal wie laut der Krach war, die beiden raufen sich jedes Mal aufs Neue zusammen und reden über ihre Probleme. Marie sagt, Daniel mache ihr viele Komplimente und sage ihr auch immer wieder, dass er sie liebe. Dabei lächelt sie. Eigentlich wollte sie so schnell keinen neuen Mann in ihr Leben lassen. Ein zu großes Durcheinander für ihren Sohn und auch sie selbst sehnt sich nach Beständigkeit.

Die Natur beruhigt Marie. Mit ein Grund warum sie nicht in der Stadt wohnt. Vom Balkon der Wohnung kann man die Berge bereits erahnen.

Daniel und Marie leben nun beide weit weg von ihren Familien. Einen Führerschein hat keiner von beiden, Marie musste ihren, samt Auto, wegen der Krankheit aufgeben. Also sind sie auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Gar nicht so leicht, die nächste größere Stadt ist so bestimmt 45 Minuten entfernt. Dafür haben sie die Natur: Der Main fließt direkt durch ihren Ort, der wiederum mitten in einer hügeligen Landschaft liegt. “Ihr lebt da, wo andere Urlaub machen”, erkennt auch Daniels Vater an, ein großer, schlanker Mann in Hemd und Lederschuhen. Er ist kurz zu Besuch, um seinem Sohn Pullover, Schuhe und seinen lang herbeigesehnten Computer vorbeizubringen. Marie und er treffen zum ersten Mal aufeinander. Zuvor hatte sie nur mit ihm telefoniert, wenn sie im Streit mit Daniel verzweifelt war und Rat suchte.

Im Rausch

Daniel war wegen seinem Marihuanakonsum in der Reha. Auch Marie hat damit immer wieder Erfahrungen gemacht, doch irgendwann gemerkt: Nicht von Vorteil bei einer psychischen Krankheit, gerade im Zusammenspiel mit Psychopharmaka. Sie ist vorsichtiger geworden. Übermäßig viel Alkohol und Drogen sind nun Tabu. Genauso wie Tanzclubs – die Verlockung wäre zu groß.

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Ganz auf Alkohol verzichten die beiden dann doch nicht. Manchmal muss einfach ein guter Tropfen sein.

Doch es gibt auch andere Möglichkeiten, Spaß zu haben. An diesem Wochenende veranstaltet Marie eine Beautyparty in ihrer Wohnung. Ein paar Freundinnen sind da, eine hat ihren Sohn mitgenommen. Eine der jungen Frauen stellt neue Gesichtscremes und Peelings vor, die anderen testen sie. Die Kinder spielen im Nebenzimmer. Manchmal kommen sie rüber, um ihren Müttern stolz die Spielzeuge zu präsentieren. Es geht drunter und drüber. Daniel macht das offenbar nichts aus: Er liegt im Bett und ist eingeschlafen.

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Eindrücke aus Maries Schlafzimmer. Rückzugsort und Spieleparadies schließen sich nicht aus. Oder?

In der Wohnung finden sich neben Kunstdrucken und selbstgemalten Bildern auch Kreuze und kleine Engelsfiguren. Marie sagt, der Glaube habe ihr in den schwersten Zeiten ihres Lebens enorm geholfen. Sie war schon vorher gläubig, doch während ihrer Tiefpunkte lebte sie das viel mehr aus, ging regelmäßig in die Kirche und betete. Scheinbar wurden Maries Gebete erhört: Ihr Leben ist nicht perfekt, aber sie ist zufrieden und freut sich auf das, was kommt.  

*Namen von der Redaktion geändert

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