Lesung
Janine Berg-Peer ist Autorin. Sie schreibt über das Leben mit ihrer an Schizophrenie erkrankten Tochter. Diesmal teilt die Berlinerin ihre Erfahrungen in Südhessen. Eindrücke aus ihrer Lesung
Ihre Markenzeichen? Roter Lippenstift, schwarze Hornbrille, gelber Schal. Ihre Mission? Schreiben, schreiben, schreiben. Und damit „die Psychiatrie und Schizophrenie aus der Schmuddelecke holen.“ Offenbar gelingt ihr das: Angehörige melden sich bei ihr per Mail oder rufen sogar an. Manchmal müsse sie dann abwimmeln, weil sie gar keine Zeit hat. Über Kommentare und Rückmeldungen unter ihren Blogposts freue sie sich aber immer. Ihre Bücher zu schreiben, sagt sie, war kein therapeutischer Prozess. Vielmehr schreibt sie einfach gerne und gibt ihre Erfahrungen dadurch weiter. Es gäbe auch kaum vergleichbare Bücher.
Janine Berg-Peer sagt außerdem, dass Angehörige von psychisch Erkrankten nach zehn Jahren höchstwahrscheinlich selbst Depressionen, Herzkreislaufkrankheiten oder chronische Schmerzen bekommen könnten. Auch Janine Berg-Peer hat damit Erfahrungen gemacht. Ihrer Meinung nach, läge dies weniger an der Krankheit der Betroffenen selbst – diese ist ja nicht ansteckend – sondern viel mehr an den eigenen Bewältigungsstrategien: “Wir kontrollieren zu sehr, wir fokussieren uns auf das Kind, wir tun nichts anderes mehr in unserem Leben, vernachlässigen uns und unsere Lebenspartner, die anderen Geschwister. Das hält kein Mensch aus. Dieser ständige Alarmzustand macht uns krank.”
Nicht nur ihr Lippenstift, sondern auch ihre Bücher: Rot. | Foto: privat
Man könnte Frau Berg-Peer zu den alten Hasen zählen. Und damit ist nicht einmal ihr eigenes Alter gemeint (Hey, diese Frau ist mitte Siebzig, hat einen Urenkel und reist für ihre Lesungen durch halb Deutschland!). Seit über zwanzig Jahren kämpft sie an der Seite ihrer Tochter gegen deren Krankheit und lässt uns daran teilhaben. Im Buch “Schizophrenie ist scheiße, Mama!” umschreibt Frau Berg-Peer ihre Erlebnisse mit ihrer heute selbst fast 40-jährigen Tochter. „Ich bin eine total gelassene Angehörige – außer meine Tochter ruft mich drei Tage nicht an,” scherzt sie.
Doch diese Gelassenheit kam nicht von heute auf morgen, sondern basiert auf jahrelanger Übung. Diese will sie anderen Angehörigen weitergeben. Dazu betreibt sie einen eigenen Weblog, gibt Seminare und Lesungen – zum Beispiel mit ihrem aktuellen Buch “Aufopfern ist keine Lösung”. Darin beschreibt sie auch die anfängliche Hilflosigkeit: “Wir wissen überhaupt nicht, wie wir mit der Krankheit umgehen sollen oder wo wir Hilfe herkriegen. Und weil wir das nicht wissen und uns niemand sagt, was richtig ist oder wie wir mit unserem Kind oder Lebenspartner umgehen sollen, machen wir einfach das, was wir denken, was richtig ist.”
Trugschlüsse
Doch nicht immer ist das richtig, was wir für richtig halten. Manche Verhaltensweisen seien für einen gesunden Menschen zwar logisch, sorgten bei psychisch Erkrankten hingegen für Verwirrungen, da sie “die Realität manchmal anders wahrnehmen. Gefühle gehen nicht dadurch weg, dass wir uns sagen, wir sollten sie lieber nicht haben. Das Merkmal eines Wahns ist, dass man ihn dem Betroffenen nicht ausreden kann.” Man wisse zwar, dass der Wahn an sich nicht real ist, könne aber auf die ganz reale Angst eingehen und fragen, wie man helfen könne.
Janine Berg-Peer vergleicht Wahnvorstellungen mit Kleinkindern, die nachts Angst vor Krokodilen haben, und unterschiedlichem Kälteempfinden im Büro. Das Publikum nickt. Dann erzählt sie von der imaginären Freundin ihrer Tochter. Sie trafen sich immer heimlich, wenn die Mutter nicht dabei war. Irgendwann stellte sie ihre Freundin aber vor. Ab dann gingen sie zu dritt spazieren.
Viele Eltern schämten sich, laut Frau Berg-Peer, für ihr krankes Kind und erzählten deswegen niemandem in ihrem Umfeld davon. Da platzt ihr fast der Kragen, denn die Kinder können der Außenwelt nicht aus dem Weg gehen, sehen sich täglich mit unangenehmen Situationen konfrontiert. Sie findet: “Sie müssen zu all dem stehen. Dann sollten wir das auch.”
Die Schuldfrage
Manchmal bringt sie das Publikum mit Selbstironie über ihren unstillbaren Appetit oder Witzen über Ehemänner zum Lachen. Stillschweigen herrscht allerdings bei der Frage, was man denn als Eltern für die Krankheit des eigenen Kindes könne. Die Gesellschaft gehe immer davon aus, dass Eltern für die Probleme ihrer Kinder verantwortlich sind. Viele würden diesen Gedanken teilen – bis sie dann selbst Angehörige sind. Dann beginnt das Hirn zu rattern und man beginnt zu denken, ob man nicht vielleicht wirklich selbst Schuld an Allem ist. “Es gibt nichts, was nachweislich zur Krankheit geführt hat. Selbst wenn wir schlechte Eltern wären,” ist sich Frau Berg-Peer sicher. Und weiter: “Wenn schlechte Eltern wirklich zu Schizophrenie führen, dann müssten die Zahlen für Schizophrenie wirklich deutlich höher liegen.” Ein angespanntes Lachen geht durch die Reihen.
Unsere Kinder sind krank, aber nicht dumm!
In ihren Beratungssitzungen lernt Frau Berg-Peer viele Angehörige kennen. Mit unterschiedlichen Problemen. So traf sie auf eine Frau, die nicht wegen der Krankheit ihres Sohnes unglücklich sei, sondern weil er eine Arbeitsstelle annahm, die sie für minderwertig erachtete und sie sich etwas anderes für ihn wünschte. Frau Berg-Peer beobachtet dies bei vielen ihrer Klienten, wie sie ihre Beratungskunden nennt: Die Eltern argumentieren damit, dass ihr Kind zwar krank, aber eigentlich wahnsinnig intelligent sei. Doch Frau Berg-Peer weiß es besser: “Psychische Krankheiten sind kein Intelligenzproblem. Unsere Kinder sind krank aber nicht dumm.”
Sorgen machen
Viele Angehörige scheinen sich auch um Dinge zu sorgen, die sie sich selbst ausmalen, in Realität aber (noch) gar nicht in Aussicht stehen. So zerdenken sie ihr Leben und machen nicht nur sich, sondern auch die erkrankte Person unglücklich. Sorgen machen führe nachweislich am meisten zu Depressionen: “Wenn ich mir ständig Sorgen mache, dann mache ich die Welt für mein Kind und mich zu einem gefährlichen Ort. Es sind genau diese unproduktiven Sorgen, die Eltern psychisch kranker Kinder belasten.“ Frau Berg-Peer rät: “Freuen Sie sich darüber, wie es Ihrem Kind heute geht. Nichts anderes ist interessant. Auch bei gesunden Menschen wissen wir nicht wie es ihnen morgen geht.”
Janine Berg-Peer als Geschichtenerzählerin. Bei ihren Lesungen steht sie lieber. Und auch die Bücher sehen etwas moderner aus. | Foto: privat
Die Angehörigen sagen, sich keine Sorgen zu machen sei sehr schwierig – Frau Berg-Peers selbsterklärter Lieblingsspruch, der sie seit Jahren begleitet. Darauf entgegnet sie immer nur wieder, dass uns niemand versprochen habe, dass das Leben einfach sei und wir es trotzdem versuchen sollten. Sorgen zeugten zudem nicht von Verantwortung, sondern einer ganz großen Ängstlichkeit.
“Jeder Psychiater, Psychologe, Sozialarbeiter, der eine Prognose bei einer psychischen Krankheit abgibt, lügt. Es gibt bei psychischen Krankheiten keine Prognose.” Und es gibt ihrer Ansicht nach auch keine Lösung: „Wir müssen uns damit abfinden, dass unser Kind immer wieder krank werden kann oder dass eine bestimmte Stufe des Gut-Gehens nicht überstiegen werden kann. Wir müssen lernen, uns über das zu freuen, was jetzt gerade möglich ist. Und das ist wirklich unheimlich schwer.”
Vom Loslassen: Was kann schlimmstenfalls passieren?
Von Eltern werde immer erwartet, dass sie die Konsequenzen für die Entscheidungen ihres kranken Kindes tragen. “Wenn wir die Diagnose dann aber hören und sagen, dass wir nun alles tun müssen, was wir können, wird uns gesagt, wir sollen loslassen und nicht klammern. Würden wir aber resignieren, würden wir auch nicht gerade als sehr sympathische Eltern rüberkommen. Was immer wir machen ist falsch,” beschreibt Janine Berg-Peer ihre Erfahrungen. Nun weiß sie: “Wir müssen nicht loslassen. Wir dürfen loslassen.” Mit Loslassen sei nämlich nicht gemeint, dass man sich nicht mehr um sein Kind kümmern solle. Ganz im Gegenteil: Die übertriebenen Ängste sollen losgelassen werden. Denn im Endeffekt müssten die Kinder selbst gesund werden wollen, als Eltern könne man nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Alles andere könne vom Kind zudem auch als übergriffig verstanden oder als fehlendes Zutrauen interpretiert werden.
Grenzen setzen
Immer wieder beteuert Janine Berg-Peer, dass es jahrelang dauerte bis sie mit allem so locker umgehen konnte und sie deswegen auch niemanden verurteilt, der noch nicht so weit ist. Sie legt den Anwesenden ans Herz, niemals zu sagen, sie können nicht mehr. Anstelle dessen sei ein ‘Ich will nicht mehr’ ganz wichtig. “Die Erde dreht sich weiter. Auch wenn das Kind dann vielleicht erstmal sauer ist.” Man solle seine eigenen Interessen vertreten und Grenzen setzen, da auch Eltern und Angehörige ein Recht auf ihr Leben haben und dieses beispielsweise durch dauernde Rufbereitschaft eingeschränkt sei. Außerdem brauchten psychisch kranke Kinder starke Eltern – ein Ding der Unmöglichkeit bei ständigem Schlafmangel. In späteren Gesprächen mit ihrer Tochter, erfuhr Frau Berg-Peer, dass es gerade die klaren Worte waren, die ihr am meisten – gerade an Struktur – gebracht haben.
Man dürfe seinen Kindern aber nicht böse sein: In akuten Phasen seien die Betroffenen stark auf sich selbst fixiert und hätten keinen Platz, um über die Emotionen und Wünsche anderer nachzudenken. Es sei “wahnsinnig schwer, immer wieder im Kopf dieses Kunststück zu betreiben und sich zu sagen ‚Das ist die Krankheit. Sie ist nicht böse. Sie ist nicht egoistisch.’”. Frau Berg-Peer hat auch die Erfahrung gemacht, dass sich „die Menschen, die da in Wut und Rage geraten, nachher für ihr Verhalten schämen. Sie wissen sehr wohl, dass sie sich merkwürdig verhalten haben.”
Die Sache mit den Tabletten
Psychopharmaka können dick machen. Das stellt gerade bei Mädchen und jungen Frauen ein großes Problem und eine Hemmschwelle dar, weswegen sie die Medikamente oft ohne Absprache absetzen wollen. Dabei ist es sehr wichtig, die Einnahme in Kooperation mit einem Arzt zu gestalten. Janine Berg-Peer hat die Erfahrung gemacht, dass es nichts bringt, ständig vor den Folgen zu warnen. Angehörige würden nicht als Gesprächspartner wahrgenommen. Deswegen müssten die Betroffenen eigene Erfahrungen sammeln. Bei ihrer Tochter scheint es zu klappen: Sie nimmt ihre Tabletten trotz Gewichtszunahme weiter. Stabil zu bleiben ist ihr wichtiger als Modelmaße. Janine Berg-Peer ist über jeden froh, der keine Tabletten nehmen muss, weiß aber, dass es in manchen Fällen keine Alternativen gibt. Die Tabletten können Menschen helfen, ihren Alltag zu bewältigen, einem Job nachzugehen und soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Dennoch scheint das Absetzen der Tabletten ein Dauerbrenner unter den Gesprächsthemen zu sein.
Auch dieser Abend kommt nicht drumherum. Als die Lesung zur Publikumsdiskussion geöffnet wird, erkundigt sich eine Dame nach der genauen Dosierung der Medikamente Frau Berg-Peers Tochter. Ihre eigene Tochter hätte ähnliche Probleme. Dass Janine Berg-Peer weder Psychologin noch Ärztin ist, spielt scheinbar keine Rolle. Das Publikum fühlt sich gehört und verstanden. Frau Berg-Peer sagt dazu am Telefon, dass dieses Verhalten ganz normal sei. Bei Unsicherheit frage man jeden, der einem zuhört. Ihrer Tochter geht es inzwischen gut, nicht zuletzt wegen der Medikamente. Sie ist stabil, hat einen Beruf für sich entdeckt und auch sie gibt ihre Erfahrungen weiter. Zusammen geben Mutter und Tochter als „Recovery Team“ Vorträge darüber, wie sie gemeinsam die Krankheit überstanden haben – vielleicht Stoff für ein neues Buch?
Danke, liebe Lena Becker, Sie haben wirklich verstanden, was ich sagen will, das ist mir in dieser Form noch nie passiert.
Klasse. Und überhaupt ist Ihr Blog klasse.
Weiter so!